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34. Prinzessin Esmeraldas Tagebuch
Tagebuch

Prinzessin Esmeraldas Tagebuch war in derselben schwungvollen, altmodischen Handschrift geschrieben, die den Deckel schmückte. Die Tinte war klar und schwarz – so schwarz wie die schreckliche Geschichte, die das Buch zu erzählen hatte.

Mondtag

Heut war ein überaus abscheulicher und grauser Tag.

Auf Befehl Mamas (die mich an allen gemeinen Plätzen unseres Palastes arbeiten heißt, auf dass »du lernest, was Arbeit ist, Esmeralda«) bin ich heut in der Fleischküche gewest. Ich wurd angewiesen, für den Fleischkoch, der ein gar unflätiger Kerl ist und schwitzet wie ein überreifer Käse, allerlei Innereien und Därme zu putzen. Auch sein Gesicht ist wie ein Käse von der Sort, die Mama mag, weiß und mit blauen Adern überall auf der Nas. Mich dünkt, dass Mama würd den Unterschied nicht merken, wenn sie die Nas des Fleischkochs würd essen. Und sollt sie merken, dass es die Nas des Fleischkochs ist, würd sie sie trotzdem essen, dünkt mich. Aber ich darf nicht über Mama schreiben, alldieweil das ist gefährlich.

Als ich von der Fleischküche in mein Gemach zurückgekehrt und die Zofe mir eine Schüssel mit sauberem Wasser gebracht, dass ich mir Blut und Knorpel von den Fingern waschen könnt, hat Mary so aufgelöst an meine Tür geklopfet, als wär’n die Wendronhexen aus dem Wald ihr auf den Fersen. Mary, die ich von Herten gern hab, fast so gern wie meine kleinen Schwestern, war in größter Sorge.

Ich frug sie, wie ich es immer tue (denn Mama gibt nicht zu, dass ich meine lieben Schwestern nur annähernd so oft seh, wie ich es gern tät), wie es meinen Engelchen heut ginge. Darauf fing Mary an zu quieken wie die Schweine, wenn sie das Hackmesser des Fleischkochs sehn. Ich hab sie an mein kleines Kaminfeuer gesetzet (für das mir meine Zofe ein paar Kohlen stiehlt, für frostig Nächte) und Wasser darauf heißgemacht, denn der armen Mary klapperten die Zähne wie eine lose Fensterscheibe im Wind.

Ich frug sie noch einmal nach meinen kleinen Zwillingsschwestern, diesmal freilich, wie ich gesteh, mit bangem Herten. »Sie sind fort!«, rief Mary mit solch herzzerreißendem Kummer, dass der gute Sir Hereward herbeistürzte (oder schwebte, wie ich wohl besser sagen sollt) und frug: »Weshalb die Tränen?« Und als der liebe Geist an unserer Seite war, hört ich, was meinen Schwestern widerfahren. Sie waren fort.

Am Morgen in aller Früh hatte Mary meine kleinen Schwestern zu unserer Mama gebracht, denn Mama hatte es so befohlen. Blasius Schmalzfass hieß sie die Mädchen im Thronsaal alleine lassen, bis Mama käme. Sie liefen ihr weinend nach und riefen »Mary, Mary«, doch Blasius Schmalzfass stieß Mary aus dem Saal und verriegelte die Tür.

Nun sagen Mama und Blasius Schmalzfass, Mary hätte die Kleinen niemals in den Thronsaal geführet, sondern verloren. Die Füße der armen Mary sind vom vielen Herumlaufen ganz geschwollen und dick wie Schweinsblasen, so eifrig hat sie im ganzen Palast gesuchet, und ich fürchte, dass sie den Verstand verlieren möcht. Ich fürchte, der armen Mary wird es schlecht ergehen. Und wie wird es meinen armen Schwestern ergehen?

Tyrstag

Ein gar trostloser Tag. Mein Gemüt ist bedrückt. Noch immer keine Kunde von meinen Schwesterlein, und von Mary fehlet jede Spur. Ich bin ganz allein auf der Welt.

Wodanstag

Ich kenn mich heut selbst nicht wieder. Meine Seelist in Aufruhr. Ich bin wieder von einem grausen Tag in der Fleischküche zurückgekehret, und irgendwas ist nicht geheuer. Ich weiß nicht, was. Ich habe große Angst.

Donarstag

Im Morgengrauen hat Sir Hereward meinen lieben Bruder geholet. Letzte Nacht hört ich immerzu lautes Weinen und Wimmern hinter der Wandtäfelung. Es waren die Stimmen meiner kleinen Schwestern. Es tut nichts, was mein Bruder und Sir Hereward sagen. Ich kenne doch das Weinen meiner Schwestern. Ich flehte meinen Bruder an, die Täfelung zu entfernen, und da er um meinen Verstand fürchtete, tat er den Gefallen mir. Da war nichts, doch selbst jetzo höre ich, wie ihre dünnen Stimmen nach mir rufen und flehn, sie zu hefrein.

Freiastag

Mein Bruder kam. Ich soll ein Weilchen bei ihm wohnen. Ich bin dankbar, denn ich ertrag das Weinen nimmermehr. Mama wollt es zuerst nicht zugeben, aber er hat sich durchgesetzt. Heut Nachmittag zieh ich um, und mein klein Buch nehm ich mit.

Lohstag

Heut hat Mama meinen lieben Bruder aufgesuchet, denn sie haben etwas zu besprechen. Mein Bruder hat in dieser Sach ein unbehaglich Gefühl, denn er hat zu mir gesaget: »Ich werd’s nicht tun, Esmeralda. Ich wünsche Mama alles Gute, wie sich’s für einen Sohn gehöret, doch wünsch ich nicht, dass sie ewig lebet.« Obwohl ich nicht verstand, was er damit gemeint – denn wie könnt ein Mensch ewig leben? –, antwortete ich, dass ich das gewisslich auch nicht wünschte, und wir lachten. Es ist schön, mit seinem Bruder zu lachen.

Sonnentag

Mama ist heut wieder kommen. Mein Bruder verschloss sein Zimmer und sprach zu mir: »Fort mir dir, Esmeralda, denn diese Sach ist nichts für deine Ohren.« Doch statt meinem lieben Bruder zu gehorchen, tat ich das Gegenteil. Ich lauschte an der Tür, und ich musste mein Ohr nicht dicht anpressen, denn Mamas Stimme hat sich durch die dicke Eiche in mein Ohr gebohret wie der Schnabel eines Spechts. »Lass dir das gesagt sein, Marcellus, ich werd nicht eher Ruh geben, als bis ich es hab!«, schrie Mama. Ich hörte keine Antwort meines Bruders, denn Mamas Redefluss wollt kein End nicht nehmen.

Als sie ging, biss das Geschöpf, das alle beißt, die ihr missfallen, sodass sie krank werden und sterben, meine kleine Katz. Heute Abend liegt die arme Mieze darnieder und maunzt gar jämmerlich.

Mondtag

In den Gemächern meines Bruders ist es arg dunkel und düster, denn ein wüster Sturm heult durch die Burg, aber mich kümmert das nicht, denn es spiegelt mein Gemüt. Mein armes Kätzlein ist nicht mehr.

Mama ist wieder da gewest. Als sie mit ihrem Gefolge, das aus Blasius Schmalzfass und sechs bewaffneten Wächtern hat bestanden, wieder entschwunden war, kam mein lieber Bruder zu mir und berichtete mir, was vorgefallen. Mein Bruder hat meiner Mutter einen Trank versprechen müssen, der ewige Jugend verleihet. Sie wird ewig leben. Ich erhob Einspruch und wollt von ihm wissen, auf welch gefährlich Ding er sich hat eingelassen. Ich WÜNSCHE NICHT, dass Mama ewig lebt, denn ich möcht dermalen einst selber Königin werden, aber wie soll ich Königin werden, wenn Mama nicht stirbt, wie wir alle es müssen? Und mein lieber Bruder hat grimmig gelächelt und gesaget, dass er wohl einen Trank habe, aber nicht für sie, haha! Er sey für ihn, und er habe vor Monaten schon davon trunken.

Tyrstag

Warum kann ich keinen Trank bekommen, der ewige Jugend versprechet? Das ist nicht gerecht. Ich werd am schlechtesten behandelt.

Wodanstag

Mein Bruder hat seit heut einen neuen Lehrling. Obwohl er ein einnehmend Gesicht hat, ist er doch ein sehr sonderbarer Junge. Als er mich sah, lachte er und rief einen seltsam Namen, der mir nicht bekannt. Ich richtete sehr freundlich das Wort an ihn, obwohl er nur ein gewöhnlicher Lehrling ist, doch als ich es tat, lief er weg. Mein Bruder ist noch sehr in Sorge. Er sagt immerzu: »Ich hab mich selbst in der Zukunftgesehen. Hab mein schröckliches Schicksal gesehen. Oh, Esmeralda, ich bin ein Narr. Ich wollt nicht warten. Was hab ich nur getan?« Aber ich weiß nicht, was er hat getan, denn er will’s mir nicht sagen.

Freiastag

Ein unheilvoller Tag. Mama ist heut bei mir gewest. Ich darf nicht länger bei meinem lieben Bruder wohnen, denn sie sagt: »Er hat eine wichtig Aufgab zu erfüllen, Esmeralda, und mit deinem Gejammer lenkst du ihn von der Arbeit ab.« Ich bettelte, bleiben zu dürfen, doch vergebens. Jetzo sitz ich wieder in meinem trostlosen Zimmer. Mama sendet mir morgen in aller Früh Blasius Schmalzfass. Ich fürchte mich sehr.

Hier endete das Tagebuch. Jenna klappte langsam den Deckel zu, rutschte auf die Bettkante und versuchte, das Gelesene zu verdauen. Was war mit Esmeralda geschehen? Und da alle nun sie für Esmeralda hielten: Was sollte mit ihr geschehen?

Septimus Heap 03 - Physic
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